Du betrachtest gerade Radikale Gnade: Der Kampf um das richtige Verständnis von Gottes Gnade. Eine Gegenüberstellung verschiedener Ansätze

Radikale Gnade: Der Kampf um das richtige Verständnis von Gottes Gnade. Eine Gegenüberstellung verschiedener Ansätze

Wie jede Religion erkennt man auch das Christentum anhand seiner spezifischen Begrifflichkeiten. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff Gnade. Doch verstehen alle das gleiche unter diesem wichtigen Begriff? 

Pelagius: Wozu Gnade, wenn ich zur moralischen Perfektion fähig bin?

Pelagius, ein britischer Mönch und Eunuch, der ums Jahr 409 in Rom wirkte, war überzeugt, dass alle Menschen sündlos geboren werden und deshalb von ihrer Veranlagung her fähig sind, Gott perfekt zu gefallen. Für ihn wäre es theoretisch möglich, dass gewisse Menschen nie um Vergebung der Sünden bitten müssten und sogar ohne Verkündigung des Evangeliums gerettet werden, denn sie könnten Gottes Forderungen erfüllen und so ewiges Leben erhalten, egal ob sie Juden, Heiden oder Christen sind. Die Gnade hilft lediglich, dass es den Menschen besser gelingt, Gottes Gebote zu halten. Pelagius verneinte also die Notwendigkeit von Gottes Gnade im Sinne eines übernatürlichen Eingreifens im Leben des Sünders durch den Heiligen Geist. Von einer eigentlichen Gnadenlehre kann man bei ihm nicht sprechen, weil die Gnade bei ihm praktisch irrelevant ist. Im Jahr 418 verurteilte das Konzil von Kathargo Pelagius‘ Ansichten als zerstörerische Irrlehre.

Augustinus: Ich brauche Gnade, weil ich mich niemals aus eigener Kraft retten kann!

Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, war der grosse Gegner von Pelagius. Im Gegensatz zu jenem hatte Augustinus ein tiefes Sündenbewusstsein. Er war überzeugt, dass er keine Kraft hatte, seine moralische Natur zu ändern oder sich selbst zu heiligen. Wie frei er sich auch immer fühlte, er besass nur die „Freiheit“ zu sündigen. Damit war für Augustinus klar, dass nur Adam allein frei entscheiden konnte, ob er sündigen wollte oder nicht. Diesem freien Willen überlassen, entschied sich Adam für die Sünde. Die Folge davon war, dass Adams gesamte Natur völlig verdorben wurde und mit ihm auch die seiner Nachkommen. Damit hat der Mensch von Geburt an keine Wahl: er muss sündigen, weil er durch und durch Sünder ist. Wenn Menschen gerettet werden, dann niemals aus eigenem Verdienst, sondern allein durch die unverdiente Liebe Gottes. Die Erneuerung der Seele muss logischerweise das exklusive und übernatürliche Werk des Heiligen Geistes sein. Der Sünder kann weder die Wiedergeburt bewirken, noch an ihr mitwirken.

Semipelagianismus: weichgespülte Gnade!

Augustinus’ Lehre wurde durch die römische Kirche sanktioniert und als rechtgläubig bezeichnet. Aber bereits zu Lebzeiten Augustinus‘ und vor allem in den nachfolgenden Jahrhunderten begann sich die Kirche mehr und mehr von dieser Lehre zu entfernen. Opposition gegen Augustinus erwuchs vor allen aus den Klöstern. Wozu wären Zölibatsgelübde, Armut, Hingabe an Gott und klösterlicher Gehorsam der Mönche gut, wenn Gott sie umsonst erlöste? Sie brauchten also eine entsprechende Lehre, die das klösterliche Leben rechtfertigte. So entwickelte sich der Semipelagianismus, der einen schlechten Kompromiss aus der Lehre des Augustinus und Pelagius bildete. Semipelagianer verneinen zwar die Lehre des Pelagius, dass Menschen ohne sündige Natur geboren werden. Für sie ist die Seele geschwächt, anfällig für die Sünde und ohne Gottes Hilfe unfähig, geistlich Gutes zu tun. Aber Gottes Gnade basiert auf seinem Vorherwissen, das die guten Werke des Menschen voraussieht und entsprechend mit seiner Erwählung honoriert. Gnade ist im Gegensatz zu Augustinus nicht die Kraft, die den Willen zum Glauben bewirkt, sondern nur die Kraft, die dem bereits Wollenden zur Seite steht. Das anfängliche sich zu Gott wenden der Seele ist etwas Gutes und im gewissen Sinne verdienstvoll. Die Seele kann kraft ihrer Freiheit und ihrer Fähigkeit, das Gute zu tun, mit Gottes Gnade in der Erneuerung des Menschen wie auch in der Heiligung mitwirken. Die Konzile von Orange (529) und Valencia (646) entschieden sich für die Lehre des Augustinus, doch der Kampf war noch lange nicht zu Ende. Zur Zeit der Reformation lebte der alte Pelagianismus in der katholischen Kirche als Reaktion gegen die evangelische Lehre wieder auf. 

Die Reformatoren: Wir sind Gefangene und Sklaven des Bösen und können uns nicht für das Gute entscheiden!

Die Kontroverse im 16. Jahrhundert drehte sich vor allem um die Frage, ob die Gnade den Menschen dazu befähigt, seiner Rechtfertigung zuzustimmen und dabei mitzuwirken. Die Reformatoren sprechen ausdrücklich vom “unfreien Willen”. Für sie war die völlige Passivität des Menschen beim Rechtfertigungsprozess grundlegend. Gott muss mit einem übernatürlichen Akt den geistlich toten Menschen zum Leben erwecken. So schreibt Luther: „Freier Wille ohne Gnade Gottes ist überhaupt kein freier Wille. Vielmehr ist er permanenter Gefangener und Sklave des Bösen, denn er kann sich nicht von selbst für das Gute entscheiden.“ Und für Calvin war klar: wenn nicht Gott uns zu sich zieht, kommen wir niemals zu Gott! Demgegenüber spricht das Tridentinum in seiner Ablehnung der evangelischen Lehre mehrfach von einer Mitwirkung. Die römisch-katholische Kirche verneint zwar den reinen Pelagianismus und lehrt, dass der Mensch unbedingt die Gnade Gottes im Erlösungsprozess braucht. Aber sie lehrt auch, dass der gefallene Mensch die Fähigkeit besitzt mit dieser Gnade zu kooperieren. Der gefallene Mensch ist also nicht tot, sondern bloss todkrank. 

Humanismus: Wir müssen das Gute im Menschen zum Leben erwecken!

Mit seiner optimistischen Einschätzung der menschlichen Fähigkeit sympathisiert der Humanismus mit dem Pelagianismus und steht in Feindschaft mit der reformierten Anthropologie. So verfasste der Zeitgenosse Luthers und Renaissance-Humanist Erasmus von Rotterdam, eine stark beachtete Schrift, mit der er Luthers Gnadenverständnis zu widerlegen versuchte. Gemäss Erasmus braucht es die Gnade Gottes nicht, damit Menschen sich zu Gott wenden, denn wenn genug Wille zum Guten im menschlichen Willen vorhanden ist, dann ist Gnade überflüssig. Ähnlich synergistisch argumentierte etwas später der holländische Theologe Jakobus Arminius (1560 – 1609). Der Mensch wirkt an seinem Heil mit, indem er die gute Tat vollbringt und sich für Gott entscheidet. Auf die Frage, „weshalb hast du dich für Gott entschieden“, bleibt Arminius ein Fünkchen Selbstruhm. Er war halt klüger, gläubiger, heiliger oder suchender als sein Nachbar, der sich nicht für Jesus entschieden hat. Für Arminius macht die Gnade Gottes den Sünder fähig, aber nicht automatisch willig, an Christus zu glauben. Semipelagianisches oder gar pelagianisches Gedankengut findet sich häufig auch im modernen und postmodernen Evangelikalismus, der in seiner neusten Form nicht selten nur die moralischen Impulse im Menschen wecken will. Vorreiter war der amerikanische Evangelist Charles Finney, der wie kaum ein anderer Theologe Pelagius nahe stand. Liest man Finneys Systematische Theologie, dann erinnert in seiner Anthropologie und Soteriologie praktisch nichts an die Lehre der Reformation. Aber es war vor allem Finney, der unsere evangelikale Freikirchen und deren Methoden enorm geprägt hat. Gemäss Finney können Christen Gott in diesem Leben perfekt gehorchen, wenn sie wollen – und nur auf diese Art werden sie gerechtfertigt. Niemand kann gerechtfertigt werden, während Sünde – egal in welchem Mass – noch in ihm bleibt. Finney sah in der Gnadenlehre der Reformation eine grosse Gefahr für die persönliche Heiligung. So spottete er zum Beispiel über deren Formel „zugleich gerecht und Sünder“: „Ich fürchte, dass dieser Irrtum mehr Seelen vernichtet hat als die ganze Allversöhnung.“ Entsprechend fundamentalistisch sahen dann auch seine Verbotslisten aus. Nicht nur alkoholische Getränke standen da drauf, sondern auch Kaffee und Tee! Finney verkannte die Sünde als das radikal Böse in uns und bekämpfte dagegen deren Symptome – leider ein ziemlich typisches evangelikales Phänomen. 

Fazit:

Die Zentrale Frage in Bezug auf die Sichtweise der Gnade Gottes ist die Frage nach der Sünde. Je mehr wir Sünde trivialisieren, desto mehr schwächen wir die Gnade ab bzw. machen sie zu unserem Verdienst. Radikale Sünde verlangt radikale Gnade.

Was Sünde ist, erklären wir Christen am besten anhand der sog. 10 Gebote (auch Dekalog = 10 Worte genannt). Hier findest du eine hilfreiche Erklärung zum biblischen Konzept Sünde

 

Wenn du wissen willst, wie Sünde und Gnade aus der Sicht der Reformatoren beurteilt wurde, dann schau dir dieses Video an

Beitrag teilen

Schreibe einen Kommentar