„Wissen Sie, wir sind eine der letzten bibeltreuen Gemeinden in diesem Land“, erklärt mir ein Gemeindepastor. „All die zerstörende Kritik, die an der Heiligen Schrift fast nichts Wahres übriglässt, hat bei uns keinen Platz. Wir wissen, dass jedes Wort von Gottes Geist inspiriert wurde und die Bibel deshalb irrtumslos ist“, bekräftigt er. „Ein schönes Bekenntnis spricht er da aus“, denke ich, „aber führt diese absolute Bibeltreue in jedem Fall auch zu einem Leben treu nach der Bibel?“
Die Pharisäer zur Zeit Jesu bezeichneten sich gewiss nicht als Bibelkritiker, doch ausgerechnet sie wurden von Jesus als solches entlarvt. In ihrem Eifer um Buchstabentreue theologisierten sie oft die eigentliche Absicht von Gottes Wort weg. Einerseits versuchten sie die rigorosen Anwendungen einiger Gesetze abzumildern. So war es zum Beispiel verboten, am Sabbat eine Last zu tragen. Wenn diese aber in einem Schiff über das Wasser trieb, war das erlaubt. Also umgingen einige spitzfindige Gesetzesgelehrte mit der Zeit das Sabbatgebot, indem sie ihren Eseln und Maultieren Wasserschläuche auf den Rücken legten und darüber Getreide, Oliven oder Gemüse stapelten – die Last fuhr ja jetzt auf dem Wasser! Die Absicht von Gottes Befehl war clever umschifft!
Andererseits schufen die Pharisäer mit ihrer kasuistischen Theologie unzählige neue Gebote und Traditionen und legten so dem Volk eine unerträgliche Last auf. Immer wieder musste Jesus deshalb in seiner Verkündigung Gottes kostbares Wort vom Staub und Schutt der menschlichen Überlieferung freilegen (z.B. in Markus 2,27).
Bibeltreue allein garantiert noch lange nicht, dass unser Leben mit Gottes Willen übereinstimmt. Selbst in den konservativsten Kreisen besteht die Gefahr, Gottes Wort so zu umgehen, dass es uns nicht mehr trifft. Da streitet etwa einer jener bibeltreuen Christen schon seit drei Jahrzehnten mit seinem Bruder um eine Erbschaft. Nachdem alle juristischen Register gezogen wurden, spricht man jetzt nicht mehr miteinander. Jesu Antwort auf die Frage des Petrus: „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal?“ (Mat 18,21-22), gilt hier entweder nur für andere, oder die Antwort von Jesus wird derart buchstäblich ausgelegt, dass sie nicht mehr schmerzt: „Ich habe meinem Bruder siebzigmal vergeben, das reicht! Basta!“
Andererseits schaffen wir wie die Pharisäer oft neue Gesetze und Traditionen, die mit den Inhalten der Bibel nichts zu tun haben. Längst nicht alles, was landauf und landab als biblisch verkauft wird, hat etwas mit der biblischen Lehre zu tun. Vieles ist nichts anderes als menschliche Überlieferung. Mit neuen Normen und Gesetzen legen wir Gottes Volk Lasten auf, die wir aber selbst nicht zu tragen bereit sind (Lukas 11,46).
Schade, wenn wir nur noch in der Lage sind, Gesetze zu multiplizieren, durch die wir Gott beleidigen, aber nicht mehr fähig sind, anderen Menschen zu helfen, Gott zu gefallen.
Nein, Bibeltreue können wir leider nicht gleichsetzen mit der Liebe und Treue zu Gott. Genauso wenig ist Kritik an der Bibel, nur zweifeln am Wahrheitsgehalt von Gottes Wort. Wir kritisieren die Bibel auch, wenn wir unsere eigenen menschlichen Gesetze und Meinungen in sie „hineininterpretieren“ und anderen so Lasten auflegen, oder wenn wir unangenehme Stellen schlicht so uminterpretieren, dass sie uns nicht mehr schmerzen.