Dient ein kleiner Schreibfehler als Zeichen Gottes für dogmenfeindliche Christen? Vielleicht! Beim Schreiben dieses Artikels entwarf ich zuerst einen Arbeitstitel, den ich „Lehre und Systematik“ nannte. Durch einen Tippfehler entstand aber der Satz „Lehre uns Systematik“. Ein sanfter Hinweis Gottes?
Unsere christliche Abneigung gegen Theologie
Das Verlangen der Christen, Wahrheit logisch zu erklären, gebar eine besondere Abteilung der Wissenschaft: die Theologie. Die „Mutter aller Wissenschaften“, wie sie im Mittelalter genannt wurde, erforschte die biblische Wahrheit, ordnete sie systematisch und erklärte den Glauben auf hohem intellektuellem Niveau. Damit schützte sie ihn vor Irrlehre und Sektiererei. Aber Theologen haben nicht selten den Hang zur Haarspalterei. Als sie dann anfingen über alle möglichen belanglosen Finessen des Glaubens zu diskutieren, gar die Frage erörterten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können, trieben sie es im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze und verspielten das Vertrauen der Bevölkerung. So kam es, dass sich die Menschen wieder nach einem ganz einfachen und praktischen Christsein sehnten. Im Trend seiner Zeit wetterte Zwingli etwa, dass das Christsein nicht darin bestehe, über Jesus zu plappern, sondern so zu leben, wie er lebte. Andere gingen gar so weit, dass sie Theologie als solches ablehnten. So wollten beispielsweise die Täufer nichts wissen von einer akademischen Ausbildung für Geistliche. Die Abneigung gegen die Theologie legte sich später wieder, aber bereits im Pietismus lautete die Devise erneut: weg von Lehre und Theologie, hin zu Leben und Praxis. Bis heute ist besonders evangelikalen Christen die Dogmatik suspekt.
Die Notwendigkeit der Dogmatik
Die Bibel ist bekanntlich keine Dogmatik, die alles thematisch geordnet, vernunftgemäss und verabsolutierend erklärt. Sie ist vielmehr ein Buch über die facettenreiche Geschichte Gottes mit uns Menschen, die uns in einer bunten Sammlung von Erzählungen, Liedern, Gleichnissen, Bildern, Gesetzen, Briefen etc. vermittelt wird. Dürfen wir nun aus einem so kunstvoll verfassten literarischen Werk eine Dogmatik entwerfen? Vernichten wir damit nicht die eigentliche Absicht der Bibel? Stiften wir mit der systematischen Theologie nicht eher Verwirrung als Klarheit. Werden mit diesem Vorgehen nicht Texte in ein System gepresst? Fördern wir mit der Dogmatik nicht eher den Streit als die Einheit in der Gemeinde? Systematiker sollten diese Fragen ernst nehmen. Trotzdem: Wir dürfen, ja wir sollen aus der Bibel allgemeingültige Lehren entnehmen. Wir dürfen dies, weil die Heilige Schrift eine Einheit bildet und nicht ein Sammelsurium sich widersprechender Texte ist. Wir dürfen es, weil wir einem unveränderlichen Gott dienen, dessen Aussagen ewiggültig sind. Wir dürfen es, weil Jesus und die Autoren des Neuen Testaments es vormachten. Und wir müssen es, weil Logik und Systematik ein Geschenk Gottes ist und gute Theologie deshalb unserem Glauben dient.
Glauben, ohne zu wissen
In den Dutzenden von Büchern und Hunderten von Seiten seines Wortes gibt uns Gott Einblick in sein Wesen, seine Sicht über uns Menschen, die Sünde, Jesus, die Rettung… Nur die Bibel als Ganzes malt das umfassende Bild. Diese gesamte und einheitliche Lehre gilt es zu entdecken. Bibelauslegung ohne Systematik steht in Gefahr, einzelne Verse und Texte isoliert zu betrachten und zu einer Falschaussage zu gelangen. In Psalm 1,3 lesen wir z.B., dass dem Gottesfürchtigen alles gelingt. Betrachten wir diesen Vers für sich allein, dürfte ein Gläubiger nie seinen Job verlieren, krank werden oder in einer Prüfung durchfallen! Anhand isolierter Bibelverse lässt sich bekanntlich alles belegen, auch dass wir Röhrenjeans von Levis tragen müssen, wenn wir gerettet werden wollen. Aber damit beweisen wir höchstens die heillosen Abgründe einer systemlosen Exegese! Einzig die gesamtbiblische Lehre schützt uns vor Einseitigkeiten und Irrtümern. Und doch, es gibt viele Christen, die behaupten: „Die Jesusnachfolge ist nicht eine Sache der Lehre, sondern des Lebens. Es spielt keine Rolle, was du glaubst, sondern wie du lebst!“ Das hört sich zwar fromm an, gehört aber eher in den Bereich der Häresie! Von welchem Christus ist hier die Rede? Vom Sozialreformer? Vom Gutmenschen? Vom Revolutionär? Wenn dieser Christus tatsächlich unsere Schuld vor Gott vergeben kann, dann muss er der „Sohn des lebendigen Gottes“ sein (Mat 16,13-19). Ist dieser Christus effektiv an unserer Stelle am Kreuz gestorben, dann muss er als wirklicher Mensch gelebt haben (1. Joh 4,2-3). Es reicht nicht, warmherzige, zustimmende positive Gefühle Jesus gegenüber zu haben. Glauben hat auch mit Inhalten zu tun. Wir müssen uns also gezwungenermassen mit Christi Natur als Mensch und Gott zugleich befassen. Besitzen wir falsches oder ungenügendes Wissen, können wir nicht oder nicht richtig glauben!
Richtig ist, was funktioniert
„Was brauche ich Wissen? Ich erlebe Gott täglich, das genügt mir!“ Viele Menschen definieren Wahrheit von den praktischen Resultaten her und nicht mehr als absolute Realität. Wenn ich Gott erlebe, dann gibt es ihn. Erfahre ich aber keine praktischen Auswirkungen in meinem Leben, dann bleibt er bloss eine Hypothese. Wahr ist nur noch, was ich erlebe und vor allem was funktioniert. Abgesehen davon, dass diese Ansicht uns jede ethische Grundlage entzieht (hätte Hitler den 2. Weltkrieg gewonnen, wäre auch sein Kampf gegen die Juden richtig gewesen!?), führt sie uns in eine Erlebniswelt ohne Wissen. Stephen R. Prothero, Religionswissenschaftler an der Universität von Boston, bemängelt in der NZZ am Sonntag, dass die Religion im amerikanischen Leben vom Kopf ins Herz wanderte. Das ist nicht nur positiv! Wir haben heute einen Glauben ohne Wissen. Glauben ist höchstens noch spirituelle Unterhaltung, ein gutes Gefühl. Kein Wunder, fehlt es den 90 Prozent gottgläubigen Amerikanern – und nicht nur denen – an Grundwissen biblischer Lehre. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung glaubt, das Zitat „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ stehe in der Bibel! Dachten Sie das auch? Was würde Paulus dazu sagen? „Einige Leute wissen nichts von Gott; ich sage das, damit ihr euch schämt!“ (1. Kor 15,34). Wissen dient dem Glauben. Der Glauben erlöst den Christen nicht vom Wunsch zu studieren und zu überlegen, sondern spornt ihn vielmehr dazu an. Gute Theologie bringt uns näher zu Gott, fördert unser Vertrauen in Jesus Christus und hilft uns, dass wir Gott gefallen können.